Erinnerungen eines Pressburgers: Zwischen Ungarn- und Deutschtum und der kommunistischen Tschechoslowakei der 1960er und 1970er Jahre

Familienfotoalben
21. August 2022

Es wäre sinnlos, die eigenen deutschen Wurzeln leugnen zu wollen, wenn man Robert Hofrichter heißt und mit einem Opa in einem Haus gelebt hat, dessen Name Leopold Altdorffer lautete, und wenn dieser nagyapa trotz Widerstände beharrlich versucht hat, seinen Enkelkindern die Grundlagen der deutschen Grammatik inklusive Plusquamperfektum einzutrichtern. Als 1945 sowjetische Soldaten in Bratislava einzogen, wie ich aus Erzählungen meiner damals 14jähriger Mutter weiß, drangen sie in jedes Haus ein und suchten, Kalaschnikov im Arm, nach Deutschen: „Germani, Germani!“, riefen sie. Mich hat es immer schon gewundert, wie unsere Familie die Befreiung von den Nazis bei diesen Namen überstehen konnte.

 

Familienfoto ca.1960. Auf dem Foto bin ich mit meiner Schwester, Eltern, Großeltern und Cousine sowie ihrer Mutter, also meiner Tante. Beide Familien trugen die deutschen Nachnamen Hofrichter und Altdorffer, die Verständigungssprache in der Familie war jedoch Ungarisch. (Quelle: Familienarchiv Hofrichter und Altdorffer)

 

Sowohl die mütterliche Altdorffer-Linie als auch die väterlichen Hofrichters waren deutscher Abstammung. Das beweisen nicht nur die Namen, sondern auch Nachforschungen in den familiären Stammbäumen und die historische Sachlage, da Pressburg immer schon eine überwiegend deutschsprachige Stadt war. Dasselbe sagt ein genetischer Haplogruppen-Test meines Y-Chromosoms. Meine väterlichen Vorfahren stammten aus Norddeutschland. (Einige Jahre bestand die Hoffnung, wir könnten Wikingerblut haben, aber das stimmte wohl nicht.)

Leopold Altdorffer

Mein Grossvater mütterlicherseits Dr. Leopold Altdorffer (1898 – 1985) war Rechtsanwalt, Angestellter bei der Direktion vom Kohlenbergwerk „Handlovské uhoľné bane“ in Bratislava, in privatem Leben Sammler und Botaniker. Er war sprachbegabt, da er 6 Sprachen beherrschte (Ungarisch, Deutsch, Slowakisch, Tschechisch, Französisch und Englisch). (Quelle: Familienarchiv Hofrichter und Altdorffer)

 

Zweifel über die deutsche Herkunft konnte ich als Kind somit keine haben, doch so einfach war die Sache nicht in Bratislava, mit deutschem Namen Pressburg, auf Ungarisch Pozsony. Zuhause redeten wir Ungarisch. Und ich besuchte mit meiner Schwester slowakische Schulen. Waren wir also noch Deutsche?

In den Jahren meiner Kindheit und Jugend, und schon davor, eliminierten einige historische Brüche das Deutsche aus Bratislava. Kurz nach dem Krieg wurden die sogenannten Beneš-Dekrete umgesetzt und man vertrieb die Deutschen ebenso wie die Ungarn. Viele Deutsche ergriffen auch freiwillig die Flucht, einige Stunden bevor die sowjetischen Truppen in die Stadt einzogen. Glück hatten nur jene Deutschen, die bei den Kommunisten oder Partisanen waren; sie konnten bleiben.

Nun lebten wir (ich bin 1957 geboren) in Bratislava hinter dem damals noch jungen Eisernen Vorhang. Zwar nur wenige Kilometer hinter ihm, sogar in Sichtweite, aber dennoch. Das kapitalistische und damit feindliche deutschsprachige Gebiet begann am anderen Donau- und Marchufer mit dem zwar politisch neutralem, aber doch westlichen Österreich, auf das sich die Blicke der freiheitsliebenden Bevölkerung richteten. Der Zweite Weltkrieg war erst ein oder zwei Jahrzehnte vorbei – aus verständlichen Gründen sollte den Menschen hinter diesem Vorhang alles Deutsche suspekt sein. Bis auf die Genossen in der DDR freilich. Westdeutschland und Österreich, das waren doch alles Faschisten, Gestapo-Männer, Kollaboranten …

Und so fristete das Deutschtum in meiner Kindheit ein tristes Dasein, obwohl an Gymnasien und anderen Schulen auch Deutschunterricht angeboten wurde und einige wenige Familien an der Sprache festhielten. Grundsätzlich, das hörte ich sowohl aus der Schule als auch von meiner Familie, lautete die Parole, dass die Slowaken oder Slawen nach tausendjähriger schlechter Erfahrung mit Deutschen und Ungarn mit diesen unmöglich in einem Staat leben könnten. Diese tausendjährige schlechte Erfahrung mit den Ungarn war ein Märchen, das war im Familienkreis jedem klar. Dass es im Donau- und Karpatenraum ohne die Deutschen nichts gegeben hätte, was die Wirtschaft, Kultur und Zivilisation vorangetrieben hätte, wurde uns im Geschichtsunterricht jedoch verschwiegen.

Die Redaktion der Pressburger Zeitung um 1925. Diese deutsche Zeitung war die erste langfristig herasugegebene Zeitung in damaligem Ungarn und erschien zwischen 1764 und 1929. (Quelle: Sammlung Juraj Hováth)

 

Einige Zahlen belegen gut, warum unsere Familie in der Zeit meiner Kindheit trotz deutscher Wurzeln gar nicht mehr deutsch war. Im Jahr 1880 waren noch 63,4 % der pressburger Stadtbevölkerung Deutsche; im Jahr 1910, nach 40 Jahren Österreich-Ungarn also, waren es immer noch 41,9 %, und 1919 (Erste Tschechoslowakische Republik) weiterhin 36,3 %. Im Jahr 1938, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, waren es 21,8 %. Doch jetzt kommt der große Bruch: Im Jahr 1950, in der kommunistischen Tschechoslowakei, bekannten sich lediglich 0,6 % der Pressburger als Deutsche. Sehr wahrscheinlich hatte sich in der Kriegszeit zumindest ein Familienvertreter klar als Antifaschist deklariert, war bei den Partisanen oder unterstützte diese. Nicht wenige slawisierten ihre Namen, unsere Familie nicht.

Das mit der Namensänderung war in Pressburg schon lange Mode, und immer ein Zeichen für Opportunismus. Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich im Jahr 1867 haben viele Deutsche in Pressburg und ganz Transleithanien sich und ihre Namen freiwillig magyarisiert. Für die Karriere der Kinder war es damals opportuner, als Ungar zu gelten und nicht als Deutscher, Jude, Slowake oder Kroate.

Postkarte mit dem Motiv von Pressburger Kipferln und einem deutsch-ungarischen Gruß. (Quelle: Sammlung Juraj Hováth)

 

Weil wir Ungarisch sprachen, galt auch meine Familie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht als Deutsche, sondern als Ungarn. Sowohl die Altdorffers als auch die Hofrichters blickten unsicheren Zeiten entgegen, solange davon die Rede war, aufzuräumen und eine saubere Tschechoslovakei zu schaffen. Erleichterung brachte paradoxerweise die Machtergreifung der Kommunisten im Jahr 1948. Denn unter Stalin sollten alle Völker im Ostblock kommunistische Brüder werden: die Slawen, die Ungarn, die Ostdeutschen und all die anderen.

Nun konnte unsere Familie in Bratislava ein verhältnismäßig ruhiges Leben führen. Unser Deutschtum wurde nicht völlig ausgelöscht, aber es ging zurück zugunsten des Ungarntums. Das alte multikulturelle Pressburg überlebte überwiegend in den Mikrokosmen der alteingesessenen Familien – und Deutsch gehörte damals noch dazu. Es wurde immer weniger und ist jetzt beinahe verschwunden. Paradoxerweise mit deshalb, weil der Eiserne Vorhang gefallen ist.

Wieso der Eiserne Vorhang die deutsche Sprache in Bratislava aber doch auch gewissermaßen schützte? Nun, wir hörten heimlich Westradio, und zwar den Österreichischen Rundfunk. Einer der ORF-Star-Journalisten war Hugo Portisch, selbst ein gebürtiger Pressburger. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang berichtete er aus aller Welt. Heinz Conrads war ein anderer Star der Großeltern. Freie Nachrichten und Unterhaltung auf gut Österreichisch, das prägte uns und wird unvergesslich bleiben. Unser Deutschtum starb doch nicht völlig aus.

Aus Österreich kam nach Pressburg die einzige deutschsprachige Zeitung, die durch den Briefträger und damit offiziell zugestellt wurde: die Volksstimme. Weder Großeltern noch Eltern waren Kommunisten, also hatte man die Zeitung vor allem zur Pflege der deutschen Sprache (auch für uns Kinder) abonniert. Diese Tageszeitung war das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ), und dass der Medieneigentümer die KPÖ war, störte uns ehrlich gesagt nicht im Geringsten. Es waren Kommunisten aus einem freien Land und damit waren sie irgendwie anders als die bei uns. Wir vermuten rückblickend, dass die Volksstimme bei konservativen Österreichern verpönt war, uns blies sie jedoch sogar einen Hauch von Freiheit herüber. Das Bewusstsein, dass sie aus Österreich und damit einem freien Land kam, vermittelte ein angenehmes Gefühl. Vor allem das Samstagsheft als Wochenendausgabe war etwas Besonderes, bereichert durch einen Magazinteil mit dem Titel „Wochenend-Panorama“. An die Volksstimme erinnere ich mich genauso gern wie an die unterhaltsame Stimme von Heinz Conrads aus dem österreichischen Radio. Auf dem Foto eine Postkarte, die aus Bratislava (wahrscheinlich für einen Wettbewerb) an die Redaktion der Volksstimme in Wien gesendet wurde. (Quelle: Archiv Peter Janoviček)

 

Robert Hofrichter

 

Redaktion: Peter Janoviček

Lektorat: Christina Widmann

Übersetzung: Renáta Janovičková

 

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