Die Juden von Bratislava: Erinnerungen eines (damaligen) Kindes. Teil 2: Was sind Juden?

Geschichte
18. September 2022

Im ersten Teil dieses Artikels habe ich darüber gesprochen, wie die Regierung der Tschechoslowakei und die Stadt Bratislava umgingen mit der Erinnerung an die Juden. In diesem zweiten Teil möchte ich erzählen, welche Fragen ich als Kind stellte über das Judentum und was ich als Erwachsener endlich lernte.

Grab von Chatam Sofer in der unterirdischen Gedenkstätte des Chatam Sofer am Donauufer. (Foto: Robert Hofrichter)

 

Gelegentlich – meist am Sonntag – gingen wir mit den Eltern rund um die Burg von Bratislava spazieren. Einmal sagten meine Eltern diskret etwas über einen Vorbeigehenden, wobei das Wort „Jude“ fiel (auf Ungarisch zsidó). Ich verstand nicht. Ich schielte schnell hinüber zu dem Mann, aber er sah aus wie alle andren, denn es handelte sich nicht um einen orthodoxen Juden mit schwarzem Hut. Solche sah man damals praktisch nie.

In der Nachkriegszeit wussten wir nichts darüber, dass Pressburg einst ein jüdischer Wallfahrtsort war. Heute pilgern wieder orthodoxe Juden aus aller Welt in die Stadt. Denn hier lebte zu Beginn des 19. Jahrhunderts Chatam Sofer, ein bedeutender Rabbi, der geradezu den Stellenwert eines Heiligen einnimmt. Das lernte ich allerdings erst als Erwachsener.

Mosche Schreiber, der unter dem Namen Chatam Sofer als der hellleuchtendste Stern in der Geschichte der Gemeinde Pressburg in die Geschichte der jüdischen Gelehrsamkeit einging. Der führende orthodoxe Rabbiner des 19. Jahrhunderts ist 1762 in Frankfurt am Main auf die Welt gekommen. Unsere Welt verlassen hat er am 3. Oktober 1839 in Pressburg. (Quelle: Sammlung Robert Hofrichter)

 

Genausowenig erfuhr ich als Kind vom ersten ungarischen Zionistenkongress des Jahres 1903, der in Pozsony stattfand. Kurz – unsere Stadt spielte eine Rolle in der Geschichte des modernen Judentums, aber das Judentum schien keine Rolle zu spielen in der Geschichte unserer Stadt, wie wir sie lernten.

Neologische Synagoge – Blick von Wödritz. (Quelle: Sammlung J. Horváth)

 

Zurückgekehrt, aber nicht zu Hause

Wie ging es den Juden im Bratislava der Nachkriegszeit? Sie waren wenige. Von einer Gemeinde mit einstmals 15.000 Mitgliedern war nur eine kleine Zahl zurückgekommen. Man schätzt, dass die Hälfte der slowakischen Juden ermordet wurden. Die andere Hälfte wanderte zu einem großen Teil aus. Diejenigen, die zurückkehrten nach Bratislava, fühlten sich nicht mehr zu Hause.

Meine Mutter war Apothekerin. Als sie nach dem Studium ihre erste Arbeitsstelle in der Sturova ulica antrat, hatte sie noch einige Kollegen jüdischer Abstammung, einige aus jener schwindend kleiner Minderheit, die nach dem Krieg zurückkamen. Die meisten änderten ihre Namen und wollten etwa Pál oder Gregor heißen, Allerweltsnamen. Sie versteckten sich geradezu. Und nach einiger Zeit wanderten sie aus nach Palästina, ein Wort, das ich zwar oft gehört habe als Kind, aber nicht verstehen konnte.

Blick vom Burgberg auf die Schlossstraße mit der heute nicht mehr existierenden Großen/Orthodoxen Synagoge. (Quelle: Sammlung Peter Janoviček)

 

Was lernt man im Katechismus?

Meinen Eltern war es weniger wichtig, aber die Großmutter hat versucht, mich und meine Schwester zum katholischen Glauben zu führen. Ich bekam einen Katechismus in ungarischer Sprache, in dem kurze Geschichten standen und nette Illustrationen, von denen mir der auf einem Esel nach Jerusalem reitende Jesus (ein schmächtiger, germanischer Typ mit schmalem Gesicht) am meisten in Erinnerung blieb. Juden kamen durchaus vor im Katechismus. Jesus war Jude. Die Mutter Gottes ebenso Jüdin, und sämtliche Apostel und Jünger der ersten Jahrzehnte. Aber was sind Juden? Ein Volk? Eine Religion? Eine Sprache? Das erfuhr ich nicht.

Fischplatz mit der Neologischen Synagoge und der Kathedrale des Heiligen Martin im Hintergrund. (Quelle: Sammlung J. Horváth)

 

Als Kind konnte ich nicht verstehen, was genau Jude oder Judentum bedeutet. Als Erwachsener konnte ich das Heilige Land mehrmals bereisen, habe die Geschichte der Bibel und des Christentums studiert und gelehrte Bücher von Fachleuten gelesen. Endlich hat sich der Kindheitstraum erfüllt, zu verstehen, was Palästina, Jude und all das andere bedeutet. Ich lernte, dass das Christentum hervorgegangen ist aus dem Judentum. Ja, dass die gesamte abendländische Zivilisation und Kultur ihre Wurzeln in der jüdischen Religion und Geschichte hat.

Schlosstreppe um 1925. (Quelle: Sammlung J. Horváth)

 

In der katholisch geprägten Slowakei sind bestimmte Fakten bis heute schwer verdaulich: Dass  Jesus aus Nazareth kein Katholik war und dass die ersten Christen auch keine Katholiken waren, sondern dass dieser Begriff erst Jahrhunderte später entstand. Dass das Christentum vom Judentum abstammt. Ohne Judentum hätten wir es mit einer anderen Welt zu tun.

 

Robert Hofrichter

 

Redaktion: Peter Janoviček

Lektorat: Christina Widmann

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