„Mein Pressburg“ von Josef Wallner. Teil 7: Eine Heimat für Viele

Geschichte
27. Juni 2023

Ein kalter Windstoß weht vom Michaelertorturm, dem einzigen Stadtzugang, der sich von der Stadtbefestigung erhalten hat, herunter. Er lässt jetzt, im Frühherbst, bei mir ein wenig Vorfreude auf den Winter aufkommen, denn dann gehören Michaeler- und Venturgasse den Pressburgern und mir fast allein und dann liebe ich es, hinunterzuspazieren bis zum Steiner, vielleicht dem einzigen Geschäft, das vom blühenden und bunten Einzelhandel des alten Pressburg geblieben ist. Wobei geblieben nicht ganz stimmt, wieder da trifft es besser. Die Steiner und ihre Buchhandlung waren und sind ein Stück Pressburg. Begonnen hat alles mit dem aus Kojetein (Kojetín) in Mähren stammenden Sigmund Steiner und seiner Frau Josephine, die ab 1847 am Schlossgrund ein Antiquariat mit angeschlossener Leihbibliothek betrieben. Für seine Glaubensgemeinschaft spielte der später erblindete Sigmund auch als Talmud-Kenner und -Lehrer eine bedeutende Rolle. Sohn Hermann baute das Geschäft zu einer Buch- und Musikalienhandlung aus, die schon bald (im neuen Haus in der Venturgasse 22) zu einer festen Adresse des intellektuellen Pressburger Lebens wurde, so wie Hermann in den Kreis der Honoratioren seiner Heimatstadt aufstieg und auch über deren Grenzen hinaus, als Gründungsmitglied des ungarischen Buchhändlerverbandes, hohes Ansehen genoss. Die Steiner konnten nicht nur ein weiteres Anwesen in der Pressburger Innenstadt erwerben, sondern auch den von der Familie später so geliebten Garten, der eigentlich ein großes Areal samt Villa war. Heute erhebt sich an dieser Stelle das Ehrenmal der Roten Armee (Slavin). Architektonisch interessanter ist, wenigstens für mich, das Villenviertel rund um Denkmal und Soldatenfriedhof.

Im Unterschied zu vielen anderen schlug Hermann Steiner nicht den Weg der Assimilierung ein, er war und blieb orthodoxer Jude, genauer gesagt Anhänger der Neo-Orthodoxie, und übernahm in der jüdischen Gemeinde hohe Funktionen. So vertrat er im Jahr 1905 die Pressburger Ortsgruppe Ahawat Zion auf dem Zionistenkongress von Basel. Einer seiner Söhne, Wilhelm, übernahm diese Funktion zwei Jahre später auf dem Zionistenkongress von Den Haag. Dieser Wilhelm war es, der wenige Jahrzehnte später als einziges der neun Kinder Hermanns und seiner aus Galizien stammenden Frau Selma den Holocaust überlebte. Der berühmteste Steiner war aber sein Bruder, Siegfried, Rechtsanwalt und führender Zionist der ersten tschechoslowakischen Republik. Als Angehöriger der Misrachi-Bewegung wollte er das religiöse Judentum mit dem jüdisch-nationalen Selbsthilfegedanken verbinden. Er unterstützte die Auswanderung von Juden aus der Ostslowakei und der Ukraine nach Palästina. Siegfried fühlte sich dem traditionsreichen religiösen ostmitteleuropäischen Judentum sehr verbunden, für ihn war es das Fundament des Judentums, aber er war auch Mensch des 20. Jahrhunderts, das von einem wichtigen Mitglied einer städtischen Gesellschaft Modernität und Assimilation erwartete. In diesem Spannungsverhältnis stand Steiner, bis die Nazis auch ihm und seiner Familie, bis auf Tochter Selma, 1942 das Leben nahmen.

Buchhandlung Steiner

Der Pressburger Schriftsteller Michal Hvorecky hat im Dezember 2012 in der Tageszeitung Die Presse den Leidensweg der Steiner geschildert, der für Selma Steiner auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht vorüber war: „Selma Steiner habe ich als 18-Jähriger in der Ventúrska-Gasse in Bratislava kennengelernt. Ich war damals schon ein begeisterter Leser, doch neue Bücher waren mir als Maturanten zu teuer. In der wiedereröffneten Buchhandlung der Familie Steiner entdeckte ich eine Kollektion von alten und neuen Werken, die mir den Atem raubte. Ich habe inzwischen sicher mehr als 200 Bücher in dem winzigen Laden gekauft. Frau Steiner hat jeden Besucher persönlich begrüßt und nach Lesewünschen gefragt. […]

Als ich später eigene Bücher veröffentlichte, habe ich oft mit ihr gesprochen. Sie war immer humorvoll, elegant, sympathisch. Und eine große Leserin. Sie las alles, was sie in die Finger bekam, und sympathisierte vorurteilslos mit den jungen Dichtern. Gerne habe ich mit ihr gestritten, ob Arthur Schnitzler mehr Prosa oder mehr Theatertexte hätte schreiben sollen oder welches Gedicht von Hölderlin das schönste ist. […] Selma wuchs dreisprachig auf, mit Deutsch, Ungarisch und Slowakisch, sie spielte Klavier, war Mitglied im Makkabi-Sportverein, tanzte Ballett, schwamm im Donau-Freibad und ging auf dem Slavín-Hügel spazieren […]

Ab September 1941 mussten Juden den Judenstern tragen. Die slowakischen Bestimmungen zählten neben den „Nürnberger Gesetzen“ zu den schärfsten antijüdischen Verordnungen in Europa – sogar Briefe mussten mit dem Judenstern gekennzeichnet werden, was nicht einmal für das Deutsche Reich galt. 1942 wurden mehr als 57.000 Juden aus der Slowakei deportiert. Slowakische Juden waren die ersten, die in Majdanek und Auschwitz ermordet wurden, die meisten sofort nach ihrer Ankunft.

Nach einer Vereinbarung Nazi-Deutschlands mit dem faschistischen slowakischen Regime unter Führung des katholischen Priesters Jozef Tiso wurden für jeden Verschleppten 500 Reichsmark an die Deutschen überwiesen. Über ein offizielles Warenkonto flossen umgerechnet mehr als 17 Millionen Reichsmark an die Reichsbank. Es handelt sich um eine der zynischsten Aktionen im Zweiten Weltkrieg. Die Opfer mussten im Voraus noch für ihren Tod bezahlen. Selmas Eltern und beide Brüder wurden in Auschwitz und Mauthausen getötet, ihr Onkel Gustav in Dachau, ihre Cousine Relina in Birkenau, eine andere Cousine namens Selma wurde als Widerstandskämpferin in den slowakischen Bergen gefoltert und anschließend erschossen.

Gedenktafel des Antiquariats und Buchhandlung Steiner

Selma Steiner konnte sich durch die Hilfe der Pressburger Deutschen Maria Dund dank eines gefälschten Trauscheins in Sicherheit bringen und tauchte dann in die Illegalität ab. Doch die Gestapo führte ständig Kontrollen auf den Straßen durch und wurde dabei von einheimischen Informanten unterstützt. Nur ein paar Monate vor Kriegsende wurde Selma Steiner verraten und sofort ins südslowakische KZ Sereď, anschließend nach Theresienstadt deportiert. […]

Jedes slowakische Kind, das gerne Bücher liest, kennt den Namen Ľudo Ondrejov. Der Dichter, Übersetzer und vor allem Jugendbuchautor wurde 1901 geboren. Er hatte ernsthafte literarische Ambitionen, doch die größten Erfolge feierte er mit romantischen Abenteuerromanen für Jugendliche. […] Ľudo Ondrejov stammte aus einer Handwerker- und Arbeiterfamilie. Weil er sehr gerne Wein und Schnaps trank, hat er in der Zwischenkriegszeit oft seine Beschäftigung gewechselt. Er arbeitete in einer Autowerkstatt, wurde Berufskraftfahrer, später Beamter bei einer Versicherung. 1934 wurde er freier Schriftsteller. Doch erst die Konfiszierung von jüdischem Eigentum, die „Arisierung“ von Betrieben, bedeutete für Ondrejov einen Neuanfang. In der Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung wurde er zum Anhänger der NS-Ideologie. Ondrejov, Durchschnittsslowake und typischer Mitläufer, hatte schon lange von der Buchhandlung der Familie Steiner geträumt. Der Laden wurde beschlagnahmt und für die ‚Arisierung‘ ein Vermögensverwalter eingesetzt. Der Autor der ‚Räuberjugend‘ wurde selbst zum Räuber. ‚Ich bin Intellektueller, kein Antisemit‘, sagte Ľudo Ondrejov nach der Übernahme zu den Steiners. Kurze Zeit durften Selmas Vater und seine drei Brüder als Hilfskräfte im Laden arbeiten. Doch als 1942 die Massendeportationen aus der Slowakei begannen, schrieb Ondrejov an die zuständigen Behörden: ‚Hiermit bestätige ich, dass ich in meiner Buchhandlung folgende Juden nicht brauche: Max Steiner, Jozef Steiner, Sigmund Steiner und Viliam Steiner. Verhaftung und Abtransport dieser Juden würden keinen wirtschaftlichen Verlust für mein Geschäft oder für die Slowakische Republik bedeuten.‘

Damit unterzeichnete Ondrejov das Todesurteil für Familie Steiner. Weil er zu Kriegsende kurz in einer illegalen Widerstandsgruppe aktiv war und weil fast die gesamte Familie Steiner tot war, schien es für den Jugendbuchautor, als wäre eigentlich nichts geschehen. Ondrejov machte nach 1945 in der Tschechoslowakei wieder Karriere. Nach dem kommunistischen Putsch wurde er gedeckt und von der Partei protegiert, sein Lebenslauf schamlos geschönt und gefälscht. […] Die Slowakei hat sich nie von ihrem katholischen Nationalsozialismus befreit, weder militärisch noch psychologisch. Meiner Heimat ist es dank des Nationalaufstandes im August 1944 gelungen, sich später als Opfer Hitlers zu inszenieren. Aber mit dem Kriegsende waren die Pogrome in der Slowakei nicht vorbei. Im Sommer 1946 wurde ein jüdisches Krankenhaus überfallen, und im Sommer 1948 gab es heftige antisemitische Übergriffe an mehreren Orten des Landes. Viele in Bratislava verbliebene Juden verließen spätestens Anfang 1950 die Stadt.

Neologische Synagoge

1948 wohnte Selma Steiner in Prag, wo sie die Liebe ihres Lebens traf, einen Engländer. Sie wollte zu ihm, hatte sogar eine Ausreisegenehmigung bekommen, doch sie wurde von kommunistischen Agenten als vermeintliche Westspionin verhaftet. Ein halbes Jahr war sie in Haft, dann wurde sie freigesprochen und kehrte zurück nach Bratislava. Selma Steiner lebte nach dem Krieg als junge Frau in derselben Stadt wie Ľudo Ondrejov. […]

In den Fünfzigerjahren, ohne Familie und Geld, wurde sie bereits wieder als Mitglied der verhassten Oberschicht verfolgt. […] Frau Steiner arbeitete jahrzehntelang im Staatsbetrieb ‚Das Buch‘, lehrte privat Deutsch und hat aus dieser Sprache auch immer wieder literarisch übersetzt. Ende der Sechzigerjahre war sie bereits eine europaweit anerkannte Kennerin alter Bücher, Büchersammler aus München und Prag haben sie besucht und um Ratschläge gebeten. 1990 hat sie – nicht so geräumig wie vor 100 Jahren und nicht ganz an derselben Stelle, sondern im Nebenhaus – das alte Familiengeschäft in der Ventúrska-Gasse wiedereröffnet.

Anlässlich des 100. Geburtstags von Ľudo Ondrejov 2001 wollte die slowakische Nationalbank auf Vorschlag des Kulturministeriums den berühmten Autor mit einer Gedenkmünze ehren. Selma Steiner konnte nicht mehr schweigen. Öffentlich hat sie gegen die geplante Ehrung protestiert – mit Erfolg. Viele Historiker halfen, die Tatsachen wissenschaftlich zu untersuchen und zu bestätigen, und konnten ihre Aussagen unterstützen. Die Details über die „Arisierung“ der legendären Buchhandlung schockierten die Öffentlichkeit, mich auch. Den Opfern der Nazi-Barbarei und der Wahrheit verpflichtet, brachte Selma Steiner Ondrejovs Legende zu Fall.“

Während des Prager Frühlings lebte und arbeitete Selma Steiner eine Zeitlang in Wien, aber es zog sie wieder nach Pressburg zurück. Wien war für sie die „Stadt der Hausmeister“, in der sie auf Dauer nicht leben mochte. Selma verlor rund 80 Angehörige im Holocaust. Diejenigen, die überlebt hatten, gingen nach Israel. Selma besuchte sie mehrmals im Jahr, vor allem auch, „weil sie sehr froh sei, freie Juden zu sehen“, wie sie es 2007 in einem Interview mit Ulrich Weinzierl von der deutschen Welt nannte. 2010 starb Selma Steiner in Pressburg.

Orthodoxe Synagoge in der Zámocká-Straße

Das Antiquariat wird von der Familie ihrer Geschäftspartnerin fortgeführt. Die beiden Damen waren rührig bemüht, jede meiner noch so seltsam anmutenden Fragen („Wo bitte ist der Kahlenberg?“) gewissenhaft zu beantworten.

Schaffe ich es unter der Woche nach Pressburg, am Samstag ist das Geschäft mittlerweile leider geschlossen, führt mich einer meiner ersten Wege zum Steiner, zum Stöbern, zum Plaudern und zum Kaufen. Meist werde ich fündig, nicht nur bei den Büchern, sondern auch bei den alten Karten und Ansichtskarten, vor allem Letztere sind beim Steiner günstig zu erstehen. Natürlich gibt es noch viele deutschsprachige antiquarische Bücher und Deutsch ist nach wie vor eine der Geschäftssprachen des Steiner, so wie vor achtzig Jahren, als das dreisprachige Pressburg noch Realität war, auf das sich das heutige Stadtmarketing so gerne beruft, vor ein paar Jahren nachzulesen auf der Website der Stadt: „Man sagt, dass jeder echte Pressburger vier Sprachen spricht: Slowakisch, Deutsch, Ungarisch und Mischmasch.“ Dieses Image will sich die Stadt nicht erst seit der Errichtung der unabhängigen Slowakei geben, schon die Reisenden früherer Jahrhunderte waren über den Pressburger Mischmasch erstaunt. John Paget, eine beliebte Quelle für die auf dem Gebiet der Reiseliteratur Forschenden, schrieb über einen Besuch Pressburgs im Jahr 1840: „Es war sonderbar, die verschiedenen Begrüßungen der Spaziergänger zu hören. Da gab es jede Abweichung von dem einfachen: ‚Wie geht’s‘ des deutschen Gewerbsmannes bis zu dem aufgeblasenen ‚servus, domine spectabilis‘ des katholischen Priesters. Der Ungar begnügt sich gewöhnlich mit einem ‚servus, barátam‘, eine Mischung von Latein und Magyarisch, wovon er sich trotz der größten Anstrengung nicht frei machen kann. Unter den Geistlichen ist Lateinisch noch zuweilen das Unterhaltungsmittel, unter den Adeligen Magyarisch oder Deutsch am gewöhnlichsten, und unter den Damen Deutsch oder Französisch. Die gewerblichen Klassen reden natürlich die Sprache des Volks, unter welchem sie sich befinden, doch glaube ich, daß die Handelscorrespondenz gänzlich deutsch geführt wird.“

Nun, diese Zeiten sind vorbei, schließlich haben sich auch die ethnischen Verhältnisse in der Stadt radikal verändert. Zur Zeit Pagets wohnten in Pressburg mehr als 30.000 Deutschsprachige und kaum mehr als 6.000 Ungarn und Slowaken. 1910 zeigten sich bereits die Auswirkungen der Magyarisierung: Deutschsprachige und Ungarn lagen mit je 31.000 gleichauf, 11.500 Bewohner zählten als Slowaken, rund 8.000 als Juden. Heute hat die Stadt über 400.000 Einwohner, rund 90 % von ihnen sind Slowaken, über 3 % Ungarn und weit unter einem Prozent Deutschsprachige. Zum jüdischen Glauben bekennen sich nur noch über 500 Pressburger.

Die heutigen Pressburger sprechen somit vorwiegend Slowakisch, im Dialekt mit ein paar österreichischen (wie „Baba“ zur Verabschiedung) und ungarischen Einsprengseln, die Jungen oft sehr gut Englisch, (deutsches) Deutsch spielt schon eine weit geringere Rolle, obwohl es noch von mehr Pressburgern gelernt wird als Ungarisch, das dank der magyarischen Minderheit noch ein wenig in der Stadt präsent ist (und in der Politik des Landes auch). Das Pressburger Deutsch wird nur noch von ein paar sehr Alten gesprochen.

Das Bild ist weniger bunt geworden. Aber war die in der Memoirenliteratur viel zitierte Pressburger Mehrsprachigkeit tatsächlich Realität oder doch mehr Wunschvorstellung? Historiker und Germanist Jozef Tancer hat sich die Sprachbiografien seiner Heimatstadt genauer angesehen und in vielen Interviews mit alten Pressburgerinnen und Pressburgern hinter das schöne Bild vom vielsprachigen Pressburger Alltag geblickt. So erinnerte sich eine alte Dame an eine für das Pressburg der Dreißigerjahre typische Konversation. Wir sind am Lido, dem beliebten Strandbad am Engerauer Ufer der Donau, das nach dem Vorbild des Wiener Gänsehäufls gestaltet wurde: „Es war so eine Situation: Sie sind aufs Lido gegangen und da fragte einer auf Slowakisch: Neviete, koľko je hodín? [Wissen Sie nicht, wie spät es ist?] Fél kilenc [Halb neun]. Darauf sagt er: Köszonom szépen [Danke schön]. So, so eine Situation war hier auch wenn viel Leute beisammen waren.“ Tancer schreibt dazu: „Dieses Zitat, das die mehrsprachige Kommunikation unter der Stadtbevölkerung illustriert, veranschaulicht zugleich das für mehrsprachige Milieus typische Phänomen des Code-Switching. In diesem Fall wechselt der Fragende aus dem Slowakischen ins Ungarische, passt sich dem Kommunikationskode des Antwortenden an und zeigt damit seine Dankbarkeit für die erhaltene Zeitangabe.“

Aber es geht noch besser – im sogenannten Pressburger Mischmasch: „Als wir am Anfang eines Gesprächs der Interviewten (Abkürzung „I“) erklärten, dass wir (Abkürzung „F“ – Forscher) an den Sprachen interessiert sind, die in Bratislava der Zwischenkriegszeit gesprochen wurden, wollte sie zuerst wissen, ob wir selbst irgendwelche Fremdsprachen beherrschen. Auf unsere Reaktion „My sme germanisti“ [Wir sind Germanisten], ging sie, wie folgt, zuerst ins Deutsche und dann ins Ungarische über und kehrte zum Schluss wieder zurück zum Slowakischen, in dem wir unser Gespräch begonnen hatten.

I: A vy ovládate nejakú reč? [Und Sie beherrschen irgendeine Fremdsprache?]

F: Áno, samozrejme, inak by som to nerobil… My sme obidvaja germanisti, čiže, teda [Ja, natürlich, sonst würde ich es nicht tun… Wir sind beide Germanisten, das heißt, also]

I:  Na da können wir ja Deutsch reden, wenn Sie wollen.

F: Können wir, wir können das…

I:  Wir könn’s mischen, so, so wie wir alte Prešpuráci alles mischen. Egyszer beszélünk magyarúl, és egy[szer]… – és mindig azt kérdezik: Jak vy to stále? Tri, aspoň tri reči… [Mal sprechen wir Ungarisch und mal… Alle fragen uns: Wie sprechen Sie da immer? Drei, mindestens drei Sprachen…]“

Geschäft mit dreisprachigen Schildern

Die Dreisprachigkeit, die heute viele als identitätsstiftendes Merkmal Pressburgs sehen möchten, war wahrscheinlich weniger verbreitet, als wir das heute zu glauben wünschen. Die Kommunikation im alten Pressburg spielte sich auch nach der Eingliederung der Stadt in die Tschechoslowakei im Alltag noch lange in zwei Sprachen ab, Deutsch und Ungarisch. Das Slowakische eroberte sich erst nach und nach seinen Raum in der Stadt. Für die alteingesessenen Pressburger war das oft die Sprache der Leute vom Land, die sich nun im Verein mit den Tschechen anschickten, die neuen Herren in der Stadt zu werden, für viele deutsche und magyarische Bewohner, nun saß man auf einmal wieder im selben Bott, waren sie aber noch lange keine Pressburger. Die Sprache war, wie so oft, ein Mittel sich abzugrenzen, vielleicht auch einzuigeln, vor dem Neuen, das die Identität der Stadt verändern wird, für die Alteingesessenen ein Szenario, das zumindest Unsicherheit hervorrief. Das konnte auch verletzen, so wenn in Geschäften in der Altstadt slowakisch sprechende Kunden nicht oder nicht gern bedient wurden, wie eine Interviewte Jozef Tancer erzählte: „Es gab viele Geschäfte, wo man nicht bedient wurde, wenn man nicht Deutsch sprach {…} wenn Sie z. B. an der Reihe waren und etwas auf Slowakisch wollten und jemand hinter Ihnen Deutsch sprach, so wurde zuerst der Deutsche bedient.“ Diskriminierung gab es auch in die andere Richtung, wenn etwa deutschsprachige Kinder aus Furcht ihrer Eltern vor einem stärker werdenden slowakischen Nationalismus auf eine slowakische Schule geschickt wurden und dort dem Mobbing der slowakischen Mitschüler ausgesetzt waren.

Viele Slowaken konnten sich nicht mit der für Deutschsprachige und Magyaren so wichtigen Pressburger Identität anfreunden, was auch in einer Ablehung des Pressburger Deutsch zum Ausdruck kam, wie Tancer eine 1920 geborene Interviewpartnerin zum Ausdruck brachte:

„F: […] würden Sie über sich sagen, dass Sie eine „eine alte Pressburgerin“ sind?

I: Nein, ich, ich bin in Bratislava geboren, nein, denn…

F: Womit assoziieren Sie es?

I: Die Pressburger… Also erstens habe ich nie das Pressburger Deutsch gesprochen, das ist, das ist also ein Dialekt, einfach so schrecklich wie Zuckermandl, nicht wahr? Also ich, ich fühle mich als Slowakin…

F: Mhm

I: … ich bin keine Nationalistin…

F: Ja, aber…

I: Aber, aber ich bin keine Pressburgerin.

F: Und würden Sie sagen, dass Sie eine Bratislavaerin sind?

I: Bratislavaerin ja, Bratislavaerin ja. Und dann noch eine Tschechoslowakin.“

Mehrsprachige Aufschriften der Stadt Pressburg

Was für ein Wirrwarr und wie spannend, tragisch und berührend sind die Biografien, die mit dieser zutiefst mitteleuropäischen Stadt verwoben sind. Es ist Zeit, ein wenig innezuhalten und all das zu verdauen. Anstatt mich mit den Massen durch Michaelergasse und Sattlergasse zu schieben, such ich daher einen meiner liebsten Plätze in der Stadt auf. In einem unscheinbaren Hauseingang rechts vom Michaelertorturm steige ich ein paar Stiegen hinunter und stehe mitten in einem Zaubergarten. Nun, die Dramaturgie erforderte diesen Terminus, die Realität streift ihn nur. Denn für einen Zaubergarten ist sie mir zu wenig bunt, eine Oase der Ruhe ist sie aber auf jeden Fall, die Lesezone im Michaelergraben, wo ich mit Karl Benyovszky einen virtuellen Spaziergang durch die Pressburger Innere Stadt unternehmen will.

Josef Wallner

Bilder und Fotos: Josef Wallner und Norbert Eisner, Archiv von Pressburger Kipferln

Redaktion: Peter Janoviček

Der Artikel wurde ursprünglich in dem Buch „Unterwegs in Altösterreich – Kakanische Reisen von Siebenbürgen bis Triest“ (Verlag Berger, 2020), von Josef Wallner veröffentlicht.

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